Worum geht es eigentlich? Zu den Protesten gegen G20

Viel wurde die letzten Tage über die «Krawalle in Hamburg» geschrieben. Und wieder einmal fluteten Hinz und Kunz aus ihren wohlig warmen Wohnzimmern alle Ecken der sozialen Medien mit (Vor-)Verurteilungen, geistreichen Kommentaren und den Forderungen nach repressiver Härte, inklusive wiederholtem Herbeiwünschen des polizeilichen Schiessbefehls. Als direkt Beteiligte wäre es am leichtesten, diese Schreibtischspezialist*innen einfach auszublenden, ihre Wutreden beiseite zu schieben und sich den eigenen Lehren aus den Ereignissen von Hamburg zu widmen. Dies wäre zu einfach. Diesem unreflektierten Gejammer, all den Lügen und den gefährlichen Forderungen, den polizeilichen Spielraum noch weiter auszubauen, müssen wir alle entschlossen entgegentreten. Auch dies ist Teil unseres politischen Kampfes. Dieser Artikel soll ein Versuch sein, dies aus einer anarchistischen Perspektive zu tun, indem wir der Frage nachgehen, um was es in Hamburg eigentlich ging.

Was genau ist unter G20 zu verstehen und was wurde beschlossen? Gegen was wurde protestiert? Sind die mit den Protesten verbundenen Krawalle einfach blinde Gewalt oder zumindest in Teilen bewusst gewählte Mittel der Auflehnung gegen die herrschenden Umstände? Schliessen sich unterschiedliche Mittel des Protestes gegenseitig aus oder gäbe es Wege sich als antikapitalistische Bewegung in seiner Diversität zu definieren und zu akzeptieren?

Die Entscheidung, den Gipfel in Hamburg auszurichten, zeugt von der Selbstsicherheit der G20 (die 19 wichtigsten Industrie- und Wirtschaftsnationen plus EU), denn in den vergangenen Jahren wurden solche Gipfel aus Sicherheitsgründen immer in kleinen, abgelegenen Ortschaften abgehalten. Hamburg sollte nun für ein Wochenende zum Zentrum der Staats- und Regierungschefs der G20 werden. Diese Staaten repräsentieren etwa 80 % des weltweiten BIP und 75 % des Welthandels. Auf der Agenda des Gipfels standen demnach vor allem Fragen zum globalen Wirtschaftswachstum, zum internationalen Handel und zur Regulierung der Finanzmärkte. Die Beschlüsse des Gipfels sind nicht bindend, werden aber von der G20 als «wichtige Impulse für verbindliche Abmachungen auf Ebene der Vereinten Nationen» beschrieben. In anderen Worten bedeutet dies also, dass sich die reichsten und einflussreichsten Nationen versammeln und über das Schicksal der Welt diskutieren. Es treffen sich die grössten Umweltsünder*innen des Planeten, die fleissigsten Waffenproduzenten*innen der Welt und die grössten Treiber*innen der sozialen Ungleichheit für ein Wochenende und wollen im Sinne einer Weltregierung einen Plan vorlegen, wie die Welt, welche sie zerstören, doch noch zu retten sei.

Solche Treffen sind breiter Kritik ausgesetzt, weil sie eine Bühne für selbstgefällige und heuchlerische Erklärungen der global regierenden Akteur*innen unter Ausschluss breiter Bevölkerungsteile sind, aber auch weil die Gipfel das explizite Ziel haben, die Welt mit denselben Rezepten zu verändern, die sie seit Jahrzehnten auffrisst. Die Welt wird unter Wenigen aufgeteilt – wie zu Zeiten des Kolonialismus, nur passiert dies heute mit angeblichem Mandat des Volkes und unter dem Schutzmantel von Utilitarismus und Fortschritt. Was also haben die Teilnehmer*innen des Gipfels unternommen, um «die Globalisierung zum Wohl aller Menschen zu gestalten»? Genau. Nichts, ausser sich auf verschiedenen Ebenen zum Status Quo zu bekennen und die freie Marktwirtschaft und den globalen Kapitalismus als alternativlose Lösungen zu beschwören.

Die Abschlusserklärung enthält ein Bekenntnis zum globalen Wirtschaftswachstum gekoppelt an altbekannte geld-, fiskal- und strukturpolitischen Instrumente. Eng an diesen Punkt gekoppelt ist der weitere Ausbau der freien Märkte. Es handelt sich hier also um das Bekenntnis zu einem wirtschaftlichen Umfeld, welches die Finanzkrisen der Vergangenheit mutmasslich verursacht hat und deren Haupttreiber*innen hinter dem Reichtum einiger Weniger auf Kosten der Vielen ist. «Wir werden darauf hinwirken, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle zu gewährleisten, vor allem, indem wir ein in dieser Hinsicht gedeihliches Umfeld für Handel und Investitionen fördern.» Solche Ansätze sind altbekannte Beruhigungspillen, die mit Realpolitik wenig bis gar nichts am Hut haben. Der globale Handel basiert auf dem Prinzip Wettbewerb, folgt sozialdarwinistischer Logik und ist nicht darauf ausgelegt, globale wirtschaftliche und soziale Gleichheit zu fördern. Ein Artikel von Trumps nationalem Sicherheitsberater ist das jüngste Zeitzeugnis dieser Logik und beschreibt die Weltwirtschaft als eine Arena, in welcher sich verschiedene Akteure um die besten Plätze duellieren. Diejenigen, die derzeit auf den besten Plätzen sind, haben sich nun in Hamburg getroffen – bestimmt nicht mit der Absicht diese Plätze abzugeben.

Neben weiteren wirtschaftsbasierten Ausführungen sticht ein Thema des Gipfels besonders heraus: Verantwortung übernehmen in Afrika. Auf einem Gipfel dominiert von westlichen Staaten. In erster Linie geht es darum, das wirtschaftliche Potential, welches den Investor*innen bisher nicht zugänglich ist, zum Leben zu erwecken. Wirtschaftskolonialismus, der dem Privatsektor Tür und Tor öffnen soll, um auch aus den «primitiven» Entwicklungsländern florierende Konsumgesellschaften zu formen. Natürlich stand auch die Migration auf der Agenda, wobei konkrete Massnahmen besonders bei der Verhinderung von illegaler Migration und der Bekämpfung des Schlepperwesens vorgesehen sind. Auch dies ist blanker Hohn, wenn wir beachten, dass täglich Menschen auf der Flucht ertrinken, oder aufgrund ihres Aufenthaltsstatus verfolgt und eingesperrt werden. Die grosse Mehrheit der teilnehmenden Staaten trägt eine Mitschuld an den Ursachen der Vertreibung, institutionalisiert aber gleichzeitig die Diskriminierung von flüchtenden Menschen via Gesetz und Politik.

All die schönen Floskeln sind an einen Aktionsplan der G20 gebunden – einen Plan verabschiedet von den einflussreichsten Nationen der Welt, von Diktatoren und gewählten Politiker*innen, welche die Kräfte vertreten, die mitunter Syrien zerbomben, der Hungerkrise in Afrika teilnahmslos zusehen, Minderheiten massiv unterdrücken, Frauen*rechte mit Füssen treten, und sich bemühen, dass diejenigen die bereits ganz oben sind, bestimmt auch ganz oben bleiben. Nichts verdeutlicht dies besser als die Schlagzeile «Russland und USA beschliessen Waffenruhe für Teile Syriens». Willkommen in Hamburg, zum Gipfel der G20.

Gegen dieses fremdbestimmende Format und diese menschenfeindliche Politik hat sich lange im Vorfeld breiter Widerstand formiert. Verschiedene Gruppen und politische Strömungen mobilisierten seit Monaten und riefen dazu auf, sich gegen den Gipfel zu erheben – auf den Strassen, in Diskussionssälen und über digitale Kanäle. Globalisierungskritische Gruppierungen wie Greenpeace und Attac riefen zu friedlichen Protesten auf, alternative Gruppierungen aus Hamburg luden zur Tanz-Demo «Lieber Tanz ich als G20», es wurde ein Gegengipfel ausgerufen und unzählige antikapitalistische Gruppen und Individuen aus dem autonomen Spektrum kündigten grosse Demonstrationen und Tage der Sabotage an. Auch die Polizei liess sich nicht lumpen und unter Führung des Hardliners Hartmut Dudde wurde alles an Polizeipersonal und Repressionsmaterial nach Hamburg gebracht, was in den Garagen und Bunkern der BRD zu finden war. Sogar österreichische und niederländische Spezialeinheiten wurden zum grössten Polizeieinsatz in der BRD hinzugezogen. Die Polizei machte schnell klar, dass sie den Rahmen für diese Proteste vorgibt, ungeachtet des rechtsstaatlichen Rahmens, den sie ja eigentlich verteidigen wollen. Nein, die Polizei stellte sich ihre eigenen Regeln auf. Gerichtsentscheide welche die Bildung eines Protestcamps erlaubten wurden von der Polizei übergangen, das Versammlungsrecht wurde ausser Kraft gesetzt oder stark beschnitten, die Überwachung massiv ausgeweitet und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Proteste bereits im Keim zu ersticken. Die Exekutive dehnte den Rechtsstaat nach den Bedürfnissen der Staatsspitzen aus, denn für die Interessen der Regierenden darf man auch die eigene Ideologie übergehen. Am Donnerstagnachmittag dann trieb die Polizei eine friedliche, zu einem kleinen Teil vermummte Demonstration in die Enge, forcierte einen Massenpanik und dutzende Verletzte. Menschen fielen von den wilden Knüppeln flüchtend von einer drei Meter hohen Mauer, Demonstrant*innen aller Art wurden zertrampelt und verprügelt. All das, um einige Vermummte, die sich ruhig verhielten, aus dem Verkehr zu ziehen.

Die Tatsache, dass in den letzten Tagen in Hamburg nicht nur friedlich demonstriert wurde, sollte niemanden verwundern, und genauso wenig sollte es einseitig empören. Während die einzelnen Gewalttaten der Autonomen und deren Anhängsel in den Fokus der Öffentlichkeit rücken, würde ebendiese Öffentlichkeit gut daran tun, einen Blick auf den Gesamtkontext zu werfen, was auch einen sehr unbequemen Blick in den Spiegel miteinschliesst. Was wurde von uns Anarchist*innen und Autonomen verlangt? Hätten wir, während dem sich Diktatoren und liberaldemokratische Feindbilder in der prunkvollen Elbphilharmonie von klassischer Musik berieseln lassen, ruhig und friedlich für eine andere Welt demonstrieren sollen? Zu oft prallen die Parolen für Gerechtigkeit und Freiheit an der Ignoranz ab und der immerwährende Protest aller Art führt zu keinem Aufhorchen. Wir können aber nicht mehr ruhig in Reih und Glied mit Friedensfahnen durch die Strassen ziehen, um am Ende von den sozialdemokratischen Systemsoldat*innen für unsere Selbstlosigkeit gelobt zu werden, bevor ihre Polizisten uns verkloppen. Wir sind enttäuscht. Wir sind wütend. Wir akzeptieren es nicht, dass sich die Demokratie und all ihre Vertreter keinen Dreck um die Verdrängung von Obdachlosen und Flüchtlingen aus der Stadt schert. Wir lassen es nicht auf uns sitzen, dass diese Staaten mit Waffen ihre Kassen füllen; dass ihr Konkurrenzdenken freien Zugang zu Wasser und Nahrung verhindert und Menschen vertreibt, die sie dann vor der eigenen Grenze wieder nach Hause ins Elend schicken; dass ganze Wälder gerodet und die Menschen vertrieben werden, um Rohstoffe für die Welt des überschäumenden Konsums zu gewinnen. Wir sehen die Welt als Ganzes, das allen gehört und dafür kämpfen wir.

Der G20-Gipfel war ein Anlass, um dies auf unterschiedliche Weise zu demonstrieren, um die ganze Diversität der antikapitalistischen Bewegung auf die Strasse zu tragen. Es war für uns ein Moment, um durchzudrehen, unsere Unzufriedenheit auf die Strasse zu tragen, den Mächtigen mit Vehemenz entgegenzutreten und etwas Unruhe in ihre Komfortzone zu bringen. Es wurden ganz viele, unterschiedliche Mittel gesucht und Aktionen geplant, um den Gipfelablauf zu stören, für dessen reibungslosen Ablauf die BRD ihre ganze Repressionsgewalt mobilisierte. Im Rahmen dieser Aktionen wurden auch militante Mittel ergriffen um unsere Ablehnung zum Ausdruck zu bringen, der Staatsgewalt entschlossen entgegenzutreten und uns die Strassen und den Raum zu nehmen, der uns zusteht.

Die Frage nach dem Sinn der Randale im Schanzenviertel ist ohne Zweifel von gewisser Relevanz, ebenso die Kritik an dem von vielen als sinnlos empfundenen Zerstörungsmarsch durch Altona. Diese Diskussionen sollen und dürfen geführt werden, aber sie sollten uns nicht vergessen lassen, dass in diesen Tagen in Hamburg eine unglaublich heterogene Menge an Individuen und Gruppen zusammenkam, welche nicht nur in ihren Gemeinsamkeiten, sondern auch in ihren Unterschieden verstanden werden muss. Letztlich müssen auch die als «Selbstzweck» empfundenen gewalttätigen Auswüchse in einen Gesamtkontext gestellt werden. Sie hängen unweigerlich mit der Einschüchterungspraxis der Polizei im Vorfeld des Gipfels und mit der unglaublichen Härte, mit der während den letzten Tagen gegen allerlei Demonstrant*innen vorgegangen wurde, zusammen. Sie werden von der Ignoranz und Überheblichkeit der Politiker*innen und der reisserischen Berichterstattung der Medien nur noch befeuert und haben nun mit der Öffentlichkeit ein tragendes Medium für eine nachhaltige Ausblendung der einleitenden Frage gefunden: Worum geht es eigentlich? Ja, das scheint mittlerweile nur noch ein paar wenige zu interessieren. Würden sich all die Kritiker*innen der Hamburger Ausschreitungen nur annähernd so leidenschaftlich gegen die Ungerechtigkeiten einsetzen, die von den Gipfelbesucher*innen ausgeht, so würden sie die Vorkommnisse vielleicht eher als das sehen, was sie in unseren Augen waren: ein Ausdruck von Ablehnung gegen die aktuellen Umstände, Kritik gegen eine Welt, die Armut institutionalisiert und Kriege bewirtschaftet und ein Angriff gegen ein Treffen, welches an diesen Zuständen nichts ändern will. Wir lehnen diese Welt ab, erheben uns gegen sie und stehen Seite an Seite mit Menschen die es ebenfalls tun. Wir stehen vereint in unserer Diversität und kämpfen für eine solidarische Welt, welche vom Prinzip der Gemeinsamkeit und nicht vom Prinzip des Wettbewerbs dominiert wird.

Titelbild: Thorsten Schröder