Die SVP lügt nicht – Anmerkungen zu rechter Hetze, neoliberaler Politik und dem Schweizer Mittelstand

Vor dem Hintergrund von Wahlerfolgen rechter Kräfte in Europa und den USA ist in den letzten Monaten hierzulande auch die SVP wieder vermehrt in den Fokus der radikalen Linken gerückt. Neben zahlreichen Aktionen und Mobilisierungen wurde auch die Frage nach dem Charakter der Partei und den Gründen für ihren Erfolg gestellt. Diese Diskussion wollen wir mit diesem Text weiterführen und vor allem auf das Verhältnis von neoliberaler Politik und reaktionärer Ideologie eingehen. Die geläufige Erklärung, dass die SVP mit ihrem Nationalismus und ihrer Sündenbockpolitik ihre neoliberale Agenda verschleiert, scheint nicht ganz zuzutreffen. Viel eher muss davon ausgegangen werden, dass die SVP von grossen Teilen ihrer Anhänger*innenschaft gerade deswegen unterstützt und gewählt wird, weil sie Steuern senken, Sozialstaatsausgaben kürzen und soziale Rechte beschneiden will. Linke Strategien gegen den Rechtsruck müssen dieser Tatsache Rechnung tragen.

In einem Artikel vom Januar 2017 führt die Bewegung für den Sozialismus (BFS) die linke Mainstream-Erzählung exemplarisch vor: Die SVP betreibe neoliberale Politik, welche die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen, also des grössten Teils der Schweizer Bevölkerung angreife. Diese Angriffe kaschiere sie mit allerlei reaktionärer Hetze. Dieses Ideologiegemisch führe dazu, dass viele Menschen denken, die SVP würde ihre Interessen vertreten, obwohl sie eigentlich genau das Gegenteil tue. In die gleiche Kerbe schlägt der Aufruf zu den Protesten gegen die 100-Jahr-Feier der Zürcher SVP am 19. März: Um die durch die Krise notwendig gewordenen Angriffe zu rechtfertigen, betreibe die Partei im Interesse der «verschiedenen Parteien und Lobbyisten» eine «Angst- und Sündenbockpolitik», welche sich gegen Asylsuchende, Frauen, Muslim*innen und Sozialhilfeempfänger*innen richte. Die Bevölkerung werde in verschiedene Gruppen gespalten und gegeneinander aufgehetzt, um den wahren Charakter der sozialen Angriffe zu vertuschen.

Krise und Alternativlosigkeit

Zunächst ist an dieser Analyse nichts Falsches dran. Die SVP betreibt eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse der Profitmaximierung. Sie forciert Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen, Abbau des Sozialstaates, Privatisierungen und Beschneidung von Arbeitsrechten. Diese Politik hat in der Krise ihre Logik und ihre Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation. Die Produktion muss profitabel gehalten werden, indem die Ausbeutung verschärft wird. Das heisst ein grösserer Teil des Mehrwerts sollte dem Unternehmen als Profit bleiben und nicht für Löhne, Sozialabgaben und Steuern draufgehen. Der Staat hat ein Interesse daran, dass die Unternehmen auf seinem Territorium profitabel wirtschaften können, weil er von deren Steuereinnahmen abhängig und von der Abwanderung des Kapitals bedroht ist. Diese Politik haben die rechtspopulistischen Kräfte denn auch nicht für sich gepachtet. Von der griechischen Syriza über die französische Sozialistische Partei bis hin zu den stramm nationalistischen Regierungen in Osteuropa verfolgen alle Regierungen mehr oder weniger dieselbe Strategie, unter den wachsamen Augen von Deutschlands Finanzminister Schäuble und der Troika. Sie erscheint tatsächlich als «alternativlos». Auch in der Schweiz wird seit Jahren nichts anderes als neoliberale Politik gemacht, angetrieben durch den Steuerwettbewerb unter den Kantonen, verpackt in Standortrhetorik und legitimiert in diversen Volksabstimmungen.

Modern in der Wirtschaft, reaktionär in der Politik

Die SVP nimmt durchaus eine Vorreiterrolle ein was die Radikalität und die Offenheit dieser Politik angeht. Christoph Blocher, welcher die Partei ab den 1980er-Jahren – von der Zürcher Sektion aus – nach und nach übernahm und sie auf den rechtspopulistischen Kurs führte, ist ein überaus profitbewusster Unternehmer, welcher es mit modernen Geschäfts- und Managementmethoden zu einem Milliardenvermögen brachte. Er steht exemplarisch für eine neue Art Unternehmer*innen, welche an kurzfristigen Profiten in Form von Dividenden auf Aktienkapital oder durch Kauf, Sanierung und Weiterverkauf von Firmen interessiert waren. Mit ihnen verbunden sind Banken, Ratingagenturen, Beratungsunternehmen oder Investmentfonds (der oft angeführte Eisenbahnindustrielle Peter Spuhler steht in diesem Sinne gerade nicht für die typischen SVP-Kapitalist*innen, sondern bildet eine Ausnahme). Sie gerieten in Konflikt mit den alteingesessenen Industriellen, den Patrons, die sich nur ungern von (oft auch ausländischen) Investoren die Geschäftsbücher durchleuchten und die Strategie diktieren liessen. Das Fanal ist wohl der Kauf und die Zerschlagung der Alusuisse, bei dem Christoph Blocher und sein Geschäftspartner Martin Ebner wenig Sinn für den «Traditionskonzern» zeigten. Auch auf der politischen Bühne zeigte sich dieser Konflikt unter den Kapitalfraktionen. Vor allem auf die Kampagne gegen den EWR-Beitritt, welche Blocher mit der AUNS führte, reagierten die eingesessenen Wirtschaftseliten mit Unverständnis. Im Gegensatz zu den früheren Rechtspopulisten wehrte sich Blocher jedoch vehement gegen den Vorwurf wirtschaftsfeindlich zu sein. Die Führungsschicht der SVP rekrutiert sich also aus einer aufstrebenden Kapitalfraktion, welche zuerst innerhalb der Partei und dann innerhalb der Schweizer Politik hegemonial wurde.

Die SVP lügt nicht

Die Kritikpunkte an der oben skizzierten Erzählung zur SVP sind drei: Erstens verschleiert die SVP ihre neoliberale Agenda gar nicht. Das hat sie nicht nötig, weil zweitens sie sich gar nicht mit den reaktionären Ideologien beisst, sondern wunderbar ergänzt. Darum ist eine linke Strategie, die das «wahre Gesicht der SVP entlarven» will, auch nicht sehr vielversprechend. Und drittens ist es nicht die Hetze der SVP, welche die Spaltung unter den Lohnabhängigen hervorbringt, sondern es ist genau umgekehrt: Die Spaltung der Lohnabhängigen bringt die Ressentiments hervor, welche die SVP erfolgreich für sich nutzen kann.

Beginnen wir beim Offensichtlichsten: Es gibt nichts, was darauf hinweist, dass die SVP ihren Wähler*innen «falschen Wein einschenkt» (BFS), sie also anlügt. Die SVP sagt gar nicht, dass sie Politik für die Lohnabhängigen macht und für deren Interessen in Bezug auf Arbeit, Einkommen, soziale Sicherheit und Wohlfahrt einstehen würde. Stattdessen postuliert sie ganz offen, dass sie den Sozialstaat abbauen, Arbeitsrechte beschränken oder die Steuern für Unternehmen und Reiche senken will. Und wird dafür gewählt. In den Kommentaren des SVP-Fussvolks zu gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Politik ist deutlich zu hören, dass die Linke gerade dafür gehasst wird, dass sie eine soziale Agenda verfolgt, von der grosse Teile der Bevölkerung wirtschaftlich profitieren sollen. Die SVP verschweigt auch nicht die soziale Herkunft ihrer Führung. Ihre Exponent*innen präsentieren sich nur zu gerne als erfolgreiche Unternehmer*innen (so sehr, dass sich die NZZ sogar vor den Wahlen 2015 über die inflationäre Verwendung der Berufsbezeichnung «Unternehmer*in» beklagte und aufzeigte, wer denn dieses Attribut nun wirklich verdiene). Unvergessen auch ihr überaus erfolgreicher Wahlkampfspot 2015 der ohne Inhalte auskam, dafür Christoph Blocher im Garten seiner Riesenvilla oder Banker Thomas Matter beim Geldschaufeln und -waschen zeigt.

Ein einig Volk von Austeritätspolitiker*innen

Die SVP wird gewählt, weil sie von sich selbst behauptet, die einzige Partei zu sein, welche die Interessen «der Schweiz» und «des Schweizervolkes» vertritt. Wenn Linke da reininterpretieren, dass es hier um irgendwelche materiellen Interessen der einzelnen (lohnabhängigen) Mitglieder dieses Volkes geht, haben sie wohl etwas missverstanden. Die SVP-Wähler*innen kümmern sich gar nicht um ihre Interessen als Lohnabhängige, sondern eben um das Wohl ihrer Nation. Dazu gehört etwa dass die «Schweizer Tradition» gepflegt, «Überfremdung» verhindert, die «traditionelle Familie» geschützt und die «Neutralität» bewahrt wird. Dazu gehört aber auch, dass der «Wirtschaftsstandort» floriert, dass sich das eigene Land also auf dem Weltmarkt durchsetzen kann. Dieser Erfolg bildet quasi die materielle Basis des Blühens der Nation, denn wenn Schweizer Unternehmen – so die Vorstellung – gute Profite erwirtschaften können, geht es auch dem Schweizervolk gut. So werden aus den Nationalist*innen eben auch Buchhalter*innen ihrer Nation, die sich und andere auffordern, zum Wohle der Gemeinschaft mal den Gürtel enger zu schnallen und die eigenen Ansprüche hintanzustellen. Deshalb hat das Volk kein Herz für Sozialhilferempfänger*innen, Student*innen und Arbeitslose, die nichts beitragen zum Erfolg der Nation und auch nicht für dreiste soziale Forderungen, die die Haushalts- und Unternehmensbilanzen aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen und nur Zwietracht säen im Heidiland. Mit Blick auf die Krisenstaaten in der Nachbarschaft macht sich dann Stolz breit, dass man dem Schlendrian frühzeitig Einhalt gebot und nun Klassenbester ist im Leistungskurs Neoliberalismus. Ein einig Volk von Austeritätspolitiker*innen.

Die rechte Mitte der Gesellschaft

Dazu ist es nicht gekommen, weil die neoliberalen Demagogen der SVP dem Wahlvolk so lange ihre rechten Schauermärchen erzählt haben, bis sie schliesslich für bare Münze genommen wurde und die Spaltung Tatsache war. Eher war es umgekehrt. Die Anfänge des Rechtspopulismus gehen hierzulande auf die 1960er-Jahre zurück, als zum ersten Mal entsprechende Parteien und Komitees auftraten. Bekanntester Kopf war James Schwarzenbach und die von ihm gegründete Nationale Aktion (heute Schweizer Demokraten). Nach ihm ist die erste von insgesamt drei «Überfremdungsinitiativen» benannt, welche in den 1970er-Jahren eine Begrenzung des Ausländeranteils forderten. Diese vor allem gegen italienische Migrant*innen gerichtete Initiativen erreichten zwischen 29.5% und 46% Ja-Stimmenanteil und zeigten, dass schon vor dem Aufstieg der SVP ein grosser Anteil der Schweizer Stimmberechtigten für rassistische Inhalte empfänglich war. Bei Politik und Wirtschaft lösten sie damit eher Besorgnis als Frohlocken aus, war doch die Schweizer Arbeitsmarktpolitik sehr stark auf ausländische Arbeitskräfte ausgerichtet. Im Übrigen war die Schweiz eines der ersten europäischen Länder, in denen nach 1945 nicht-faschistische Rechte nennenswerte Erfolge feiern konnten. Auch auf inhaltlicher Ebene leisteten die rechtspopulistischen Parteien in der Schweiz wichtige Dienste bei der Ausarbeitung und Etablierung von Konzepten wie «Ethnopluralismus» und «kulturelle Überfremdung», die modernen Formen des biologischen Rassismus. Das Bewusstsein darüber ist hierzulande aber relativ dünn gesät, was sich etwa darin zeigt, dass dieser Rassismus meist als «Fremdenfeindlichkeit» oder sogar «Xenophobie» (also Angst) verharmlost wird.

Alte Politik in neuem Gewand

Obwohl die rechtspopulistischen Kräfte bei (primär ausländerfeindlichen) Initiativen viel Zustimmung erfuhren, Staat und etablierte Parteien damit in Bedrängnis brachten und ihre rassistischen Forderungen langsam in die Migrationspolitik einflossen, schafften sie es nie, dieses Potential in Wahlanteile umzumünzen. Dies gelang erst in den 1990er-Jahren der SVP um Christoph Blocher. Sie hatte gegenüber den rechtspopulistischen Kleinparteien den Vorteil, dass sie in der Politik bereits etabliert und akzeptiert war, über gefestigte Strukturen verfügte und vor allem Blocher und der milliardenschwere Autohändler Walter Frey viel Geld einschossen. Ausserdem importierte Blocher aus den USA nicht nur moderne Managementmethoden für seine Unternehmen, sondern auch Marketing- und Kampagnenstrategien für die SVP. Die Strategie des «permanenten Wahlkampfs» und eine nationale Vereinheitlichung der Propaganda gehört ebenso dazu wie kulturelle und soziale Anlässe, bei denen Folklore, Gemeinschaft und Politik zusammenkommen – Albisgüetlitagung, Buurezmorge, SVP-Grümpelturnier, SVP-Motorradausfahrt lassen grüssen. So schaffte es die Partei, sich eine breite Partei- und Wähler*innenbasis aufzubauen. Es handelt sich bei diesen Menschen keineswegs um gesellschaftliche Randgestalten, die aus Frust über wirtschaftliche Unsicherheit und persönlichen Misserfolg «denen da oben» mal eins auswischen wollen und jetzt aus Protest die Anti-Partei wählen. Vielmehr wählen sie immer und seit Jahren die SVP, haben die Weltwoche oder die Schweizerzeit abonniert, nehmen regelmässig an Parteianlässen teil, gehen diszipliniert nach Parteilinie abstimmen, bringen sich in der Gemeindeversammlung ein und schreiben fleissig Leserbriefe im Lokalblatt. Sie sind also politisch und sozial integriert.

Familie, Haus, Sturmgewehr

In ihrem gesellschaftlichen Kern handelt es sich bei der SVP-Wählerschaft nicht um Krisenverlierer*innen. Sie wohnt nicht in den Sozialbauten sondern in den Einfamilienhäuschen in den städtischen Agglomerationen, fährt mit dem Auto zu ihrer Arbeit als Angestellte oder Kader eines KMU’s, spart für den Urlaub auf Mallorca und fürs Alter. Vom Staat hat sie in ihrer Wahrnehmung nicht viel mehr zu erwarten als dass er die Strassen instand hält und gegen Dämmerungseinbrüche vorgeht. Deshalb kann sie nichts anfangen mit dem Ausbau öffentlicher Infrastruktur oder der Erhöhung von sozialstaatlichen Leistungen und Renten. Wichtig ist, dass die Steuern und Abgaben niedrig gehalten werden, dann bleibt mehr für den individuellen Konsum und die Zusatzversicherung. Eine harmonische Familie ist ebenso wichtig wie ein tadelloser Lebenslauf. Arbeitslosigkeit, Schulden oder Eheprobleme zeugen von individuellem Versagen und werden daher auch individuell gelöst, notfalls mit dem Armee-Sturmgewehr im Kleiderschrank. Die Nation ist schliesslich eine Schicksals- und keine Solidargemeinschaft, also sieh zu, dass du deinen Miteidgenoss*innen nicht auf der Tasche liegst.

Alle sind Mittelstand

Es ist nicht zu bestreiten, dass die SVP in allen sozialen Schichten Stimmen macht und nicht nur bei den Einfamilienhausbesitzer*innen. Die linke Vorstellung der SVP-Anhänger*innen als vom Neoliberalismus gebeutelte Proleten mag dementsprechend in Teilen zutreffen, übersieht aber, dass ihre Selbstwahrnehmung eben eine andere ist. Die SVP bezeichnet sich als «Partei des Mittelstandes», nicht der Abgehängten und Zukurzgekommenen. Sie spricht ein arbeitssames und bescheidenes, aber doch selbstbewusste «Volk» an, welches sich den Erfolg zutraut, wenn man es nur lässt («Frei bleiben» war ihr Wahlkampfmotto 2015). Beim autoritären Führer suchen sie nicht Schutz vor der Krise, sondern vor den Einschränkungen, Vorschriften und Steuern aus Bern und Brüssel, welche sie daran hindern, sich erfolgreich gegen die Krise zu wehren. Ungeachtet aller soziologischen Daten ist entscheidend, dass die Leute das Gefühl haben, sie würden zu dieser Gemeinschaft des «Mittelstandes» dazugehören, selbst wenn sie nur einen Fernseher und ein Fahrrad besitzen. Zum (nationalen) Wahn gehört gerade dazu, dass Menschen gegen ihre «objektiven» Interessen handeln. Doch der Wahn hat eben durchaus einen materiellen Kern. Dies gilt dafür, dass Lohn- und Sozialstaatsabhängige in der Schweiz natürlich auf die Performance «ihres Standorts» auf dem Weltmarkt angewiesen sind. Sie profitieren also davon, dass die Krise im globalen und europäischen Süden wütet und nicht auf der heimischen Weide.

Spaltung hat System

Wie der Aufruf zu den Aktionen gegen die SVP-Feier im März dieses Jahres anmerkt, gibt es keine Einigkeit, «die breite Bevölkerung [wird] gespalten und gegeneinander aufgebracht». Dies ist aber keineswegs Resultat der SVP-Hetze. Die Spaltung rührt nämlich daher, wie diese Gesellschaft eingerichtet ist, der Kampf aller gegen alle aus der kapitalistischen Konkurrenz. So ist es zum Beispiel in der Tat so, dass Lohnabhängige um (in der Krise knapper werdende) Jobs konkurrieren, ebenso wie es einen Unterschied macht, ob man in dieser Konkurrenz über einen Schweizer Pass verfügt oder nicht. Gerade die Schweiz hat mit ihrem im europäischen Vergleich hohen Ausländer*innenanteil den «Vorteil», dass die Arbeitslosigkeit in der Krise teilweise exportiert werden kann, weil Aufenthaltsbewilligungen an Arbeitsverträge geknüpft sind. Wenn wir also vom Schweizer Wahlvolk sprechen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass wir schon relativ privilegierte 3/4 der Gesamtbevölkerung meinen (was auch Resultat gescheiterter Klassenkämpfe bzw. Emanzipationsbemühungen ist). Der Kapitalismus ist auf unterschiedlich qualifizierte Arbeiter*innen angewiesen, auf Illegalisierte, welche die billigen Scheissjobs übernehmen, auf Frauen* welche unbezahlt Reproduktionsarbeit verrichten und und und. Weil Gesellschaft und Individuen solche Ungerechtigkeiten auf Dauer nur schwerlich aushalten, (re)produzieren sie eben allerlei Ideologien zu deren Legitimation. Wenn die SVP und ein Haufen anderer Reaktionäre also behaupten, dass Ausländer*innen nun mal anders seien oder Frauen an den Herd gehörten, naturalisieren sie damit nur die kapitalistische und patriarchale Arbeitsteilung.

Antifaschistischer Selbstschutz und Klassenkampf

Wenn wir über die Strategie gegen den Rechtsruck debattieren, sollten wir die Ideologien ernst nehmen und nicht voreilig als Resultat von Manipulation, Verarschung oder ungenügender Bildung abtun. Die vielfach geäusserte Behauptung, dass die SVP mit ihrem Nationalismus von ihrer neoliberalen Agenda ablenken will, trifft nicht zu. Deshalb kann auch die Strategie nicht darin bestehen, über diese neoliberale Agenda aufklären zu wollen und auf Einsicht zu hoffen. Vielmehr sollten wir die Tatsache ins Zentrum stellen, dass Menschen eine Verschlechterung der Lebenssituation von Ausländer*innen, Frauen*, sozial Schwachen und andere, die ihnen nicht passen, nicht nur gutheissen, sondern geradezu fordern – und das zuweilen sogar auf eigene Kosten. Das heisst, die SVP – und das meint sowohl ihre Funktionär*innen als auch ihre Wähler*innen – zunächst als das zu betrachten was sie ist: Nationalistisch, rassistisch, sexistisch, sozialchauvinistisch, neoliberal. Alles andere verharmlost ihre Menschenverachtung. Wir müssen sie bekämpfen, wo sie sich eben äussern.

Dann müssen wir konkret werden und fragen, was dazu führt, dass Menschen die von der SVP postulierten «Interessen des Volkes» als ihre eigenen wahrnehmen. Wir müssen die Dynamik analysieren, aus welcher sich der Rechtspopulismus hierzulande speist. Da spielen aufstrebende Unternehmer*innen, wachsende Agglomerationen, schweizerische Traditionen und Ideologien, ökonomische Struktur und Zusammensetzung und (erfolgreiche wie gescheiterte oder ausgebliebene) Kämpfe der Arbeiter*innenklasse eine Rolle. Dies sind zugleich die Bedingungen der von linksradikaler Seite ständig geforderten Klassenkämpfe, welche schlussendlich die rechte Hetze an der Wurzel packen sollen und müssen. Gleichzeitig ermöglicht diese Analyse auch die Frage danach, wo sich Risse im reaktionären Bewusstsein und progressive Formen politischer Praxis ergeben und wie diese vertieft werden können. Wenn die Postulate von Solidarität und Klassenkampf aber bei abstrakten Parolen bleiben oder mangels Alternativen sogar das «Volk» vom nationalen Kollektiv zum Subjekt sozialer Kämpfe umdeuten wollen, wird daraus schwerlich was werden.

Titelbild: Wikipedia